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Seminar zur Einführung in die Psychoanalyse
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Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert
geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die
Welt tritt, meine «Traumdeutung», trägt die Jahreszahl 1900. Aber sie ist,
wie selbstverständlich, nicht aus dem Stein gesprungen oder vom Himmel
gefallen, sie knüpft an Älteres an, das sie fortsetzt, sie geht aus
Anregungen hervor, die sie verarbeitet. So muss ihre Geschichte mit der
Schilderung der Einflüsse beginnen, die für ihre Entstehung massgebend
waren, und darf auch der Zeiten und der Zustände vor ihrer Schöpfung nicht
vergessen (Sigmund Freud, 1924, S. 405).
[Es ist meine Absicht,] dem Schein der Einfachheit, Vollständigkeit und
Abgeschlossenheit keine Opfer zu bringen, Probleme nicht zu verhüllen,
Lücken und Unsicherheiten nicht zu verleugnen. Auf keinem andern
Gebiet wissenschaftlicher Arbeit dürfte man sich solcher Vorsätze zu
nüchterner Selbstbescheidung rühmen. Sie gelten überall als
selbstverständlich, das Publikum erwartet es nicht anders. Kein Leser
einer Darstellung der Astronomie wird sich enttäuscht und der
Wissenschaft überlegen fühlen, wenn man ihm die Grenzen zeigt, an
denen unsere Kenntnis des Weltalls ins Nebelhafte zerflattert. Nur in der
Psychologie ist es anders, hier kommt die konstitutionelle Untauglichkeit
des Menschen zu wissenschaftlicher Forschung in vollem Ausmass zum
Vorschein. Man scheint von der Psychologie nicht Fortschritte im Wissen
zu verlangen, sondern irgendwelche andere Befriedigungen; man macht
ihr aus jedem ungelösten Problem, aus jeder eingestandenen Unsicherheit
einen Vorwurf.
Wer die Wissenschaft vom Seelenleben liebt, wird auch diese Unbilde
hinnehmen müssen (Sigmund Freud, 1933, S. 4–5).
Um an die Quelle zu kommen, muss man gegen den Strom schwimmen
(Stanislaw Jerzy Lec, 1957–1959, S. 11).
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In diesem Grundkurs werden in bestimmten Abständen neue Kandidaten zusammengefasst.
Er bietet vor allem die Möglichkeit, sich mit dem Leben und Werk Freuds vertraut zu machen, eine unumgängliche Voraussetzung für die Aneignung fundierten Wissens über die Psychoanalyse. Der Mensch Freud in seinen lebensgeschichtlichen Wandlungen und die Psychoanalyse als das Produkt seiner Arbeitstätigkeit sind wahrlich nicht voneinander zu trennen. Dazu kommen die Zeit, 1856 bis 1939, der Ort, vor allem Wien, und die besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Freud lebte und arbeitete, als bestimmende Momente bei der Entstehung der Psychoanalyse. Erst auf diesem Hintergrund kann man einige der Leistungen Freuds überhaupt voll würdigen. Vor allen Dingen soll Freuds «Schaffen in der Wahrheit, das Tun und Sagen der Wahrheit, wie es uns in Freuds eigener Existenz entgegen- und vorleuchtet» (Ludwig Binswanger, 1936, S. 187), historisch-konkret aufgezeigt werden. So nahm Freud bekanntlich soziale Empörung in Kauf, als er seine Befunde über die Rolle der Sexualität bei der Entstehung der Neurose veröffentlichte und diese Forschung weiter verfolgte. Im Laufe der Zeit trug Freud wesentlich zu einem Menschenverständnis bei, das einseitig intellektualistische Auffassungen vom Menschen widerlegt und die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung emotionaler Komponenten bis hin zum Problem des Unbewussten und der Triebe lenkt. Was Freud behandelte und wie er damit umging, stehen mit im Vordergrund des Seminars.
Binswanger, L. (1936), Freuds Auffassung des Menschen im Lichte der
Anthropologie. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Band I: Zur
phänomenologischen Anthropologie. Bern: Francke Verlag, 1961,
S. 159–189.
Freud, S. (1924), Kurzer Abriss der Psychoanalyse. Gesammelte Werke,
13:403–427. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1999.
____(1933), Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die
Psychoanalyse. Gesammelte Werke, 15:1–208. Frankfurt am Main:
S. Fischer Verlag, 1973.
Lec, S. J. (1957–1959), Unfrisierte Gedanken. Aphorismen, aus dem
Polnischen übersetzt von Karl Dedecius. Berlin: Volk und Welt, 1978.
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