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Seminar zur Menschheitsgeschichte
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So verschieden von der anderer ist nun doch keines Volkes Geschichte,
dass es sich so etwas wie eine absolute Einzigartigkeit zuschreiben und
so etwas wie eine absolute Unabhängigkeit, Autonomie und Autarkie leisten wollen könnte,
dass es mit den anderen Völkern zusammen nicht
auch g e m e i n s a m e Voraussetzungen und gemeinsame Aufgaben
zu bedenken hätte. Wie die sprachlichen und die räumlichen Grenzen
die Völker nicht nur trennen, sondern auch verbinden, so auch die Verschiedenheiten ihrer geschichtlichen Bestimmtheit und Lage. Gewisse
P a r a l l e l e n werden ihren Wegen bei aller verwirrenden Ungleichheit
der Räume, der Zeiten und der sonstigen Bedingungen gar nicht fehlen
können. Indem diese Wege sich auch oft genug kreuzen werden, kommt
es – ob das Frieden oder Krieg bedeute – zu tiefsten gegenseitigen
B e e i n f l u s s u n g e n, und wenn diese nur darin bestünden, dass gewisse Tendenzen hier sich weithin nur aus dem Gegensatz zu gewissen
Tendenzen dort und also aus Reaktionen erklären lassen. Je näher die
Nachbarschaft ist, desto mehr werden bei allem gegenseitigen Befremden zwangsläufig auch gewisse eindeutig gemeinsame Sorgen, Interessen, Bestrebungen die Wege hier und dort bestimmen. Und in irgendeiner grösseren oder geringeren, früher oder später sichtbaren und wirksamen Tiefe haben die Wege der verschiedenen Völker sogar den Charakter eines einzigen
z u s a m m e n h ä n g e n d e n Geschehens: nicht
nur, weil sie sich gegenseitig berühren und bedingen, sondern weil die
menschlichen Probleme – zu verschiedener Zeit und in verschiedener
Weise entdeckt und angefasst – letztlich doch überall dieselben sind.
Das alles bedeutet aber, dass die Geschichte jedes Volkes in ihrer ganzen
Besonderheit immer auch über sich selbst h i n a u s weist, dass sie
in ihrer ganzen Konkretion, Eigenart und Partikularität auch M e n s c h h e i t s geschichte
ist: in vorläufiger, beschränkter, gewiss weithin geradezu «bornierter» Gestalt, aber
Menschheitsgeschichte und nicht nur
Volksgeschichte ... (Karl Barth, 1951, S. 334–335).
[Man muss] nicht nur die Vergegenständlichung, sondern auch die Aneignung menschlicher Fähigkeiten durch das Individuum betrachten.
Im Laufe seiner Ontogenese tritt der Mensch in besondere Beziehungen zu der Welt der Dinge und Erscheinungen, die von den früheren
Generationen geschaffen worden sind. Die Spezifik dieser Beziehungen
wird auf der einen Seite vom Wesen dieser Gegenstände und Erscheinungen bestimmt. Auf der anderen Seite hängt sie von den Bedingungen
ab, unter denen sich diese Beziehungen bilden.
Die tatsächliche Umwelt, die das menschliche Leben am meisten bestimmt, ist eine Welt, die durch die menschliche Tätigkeit umgewandelt
wurde. Als eine Welt gesellschaftlicher Gegenstände, die die im Laufe
der gesellschaftlich-historischen Praxis gebildeten menschlichen Fähigkeiten verkörpern, wird sie dem Individuum nicht unmittelbar gegeben; in
diesen Eigenschaften offenbart sie sich jedem einzelnen Menschen als
Aufgabe.
Selbst die einfachsten Werkzeuge und Gegenstände des täglichen Bedarfs, denen das Kind begegnet, müssen von ihm in ihrer spezifischen
Qualität erschlossen werden. Mit anderen Worten: Das Kind muss an
diesen Dingen eine praktische oder kognitive Tätigkeit vollziehen, die der
in ihnen verkörperten menschlichen Tätigkeit adäquat (obwohl natürlich
mit ihr nicht identisch) ist. In welchem Masse das gelingt und wie weit
sich dem Kinde dabei die Bedeutung des gegebenen Gegenstandes oder
der gegebenen Erscheinung erschliesst, ist ein anderes Problem; es
muss jedoch stets diese Tätigkeit vollziehen (Alexejew Nikolajew Leontjew, 1959, S. 280–281).
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Da das Wesen des Menschen mit keinem partikulären Individuum identifiziert werden darf, sondern die Gesamtheit menschlicher Tätigkeiten ist, wird das Studium menschlichen Tuns als Menschheitsgeschichte unerlässlich. Grosser Wert wird auf die Zusammenhänge gelegt, die sich aus dem Verlauf objektiver Geschichtsprozesse und der Geschichte des Denkens ergeben haben. Darum wird versucht, die Seminare Kunst und Psychoanalyse, Menschheitsgeschichte, Geschichte der Philosophie und Geschichte der Filmkunst thematisch aufeinander abzustimmen.
Barth, K. (1951), Die kirchliche Dogmatik, Band III: Die Lehre von der
Schöpfung, Vierter Teil. Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1957.
Leontjew, A. N. (1959), Probleme der Entwicklung des Psychischen, aus
dem Russischen übersetzt von Elske Däbritz. Frankfurt am Main:
Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag, 1973.
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